Der Handschuh

eine Ballade von Friedrich Schiller
  1. Vor seinem Löwengarten,
  2. Das Kampfspiel zu erwarten,
  3. Saß König Franz,
  4. Und um ihn die Großen der Krone,
  5. Und rings auf hohem Balkone
  6. Die Damen in schönem Kranz.

  7. Und wie er winkt mit dem Finger,
  8. Aufthut sich der weite Zwinger,
  9. Und hinein mit bedächtigem Schritt
  10. Ein Löwe tritt,
  11. Und sieht sich stumm
  12. Rings um,
  13. Mit langem Gähnen,
  14. Und schüttelt die Mähnen,
  15. Und streckt die Glieder,
  16. Und legt sich nieder.

  17. Und der König winkt wieder,
  18. Da öfnet sich behend
  19. Ein zweites Thor,
  20. Daraus rennt
  21. Mit wildem Sprunge
  22. Ein Tiger hervor,
  23. Wie der den Löwen erschaut
  24. Brüllt er laut,
  25. Schlägt mit dem Schweif
  26. Einen furchtbaren Reif,
  27. Und recket die Zunge,
  28. Und im Kreise scheu
  29. Umgeht er den Leu
  30. Grimmig schnurrend,
  31. Drauf streckt er sich murrend
  32. Zur Seite nieder.

  33. Und der König winkt wieder,
  34. Da speit das doppelt geöfnete Haus
  35. Zwey Leoparden auf einmal aus,
  36. Die stürzen mit muthiger Kampfbegier
  37. Auf das Tigerthier,
  38. Das pakt sie mit seinen grimmigen Tatzen,
  39. Und der Leu mit Gebrüll
  40. Richtet sich auf, da wirds still,
  41. Und herum im Kreis,
  42. Von Mordsucht heiß,
  43. Lagern sich die greulichen Katzen.
  44. Da fällt von des Altans Rand
  45. Ein Handschuh von schöner Hand
  46. Zwischen den Tiger und den Leu’n
  47. Mitten hinein.
  48. Und zu Ritter Delorges spottender Weis’
  49. Wendet sich Fräulein Kunigund:
  50. „Herr Ritter ist eure Lieb so heiß
  51. Wie ihr mirs schwört zu jeder Stund,
  52. Ey so hebt mir den Handschuh auf“.
  53. Und der Ritter in schnellem Lauf
  54. Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
  55. Mit festem Schritte,
  56. Und aus der Ungeheuer Mitte
  57. Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.
  58. Und mit Erstaunen und mit Grauen
  59. Sehens die Ritter und Edelfrauen,
  60. Und gelassen bringt er den Handschuh zurück,
  61. Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
  62. Aber mit zärtlichem Liebesblick –
  63. Er verheißt ihm sein nahes Glück –
  64. Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
  65. Und der Ritter sich tief verbeugend, spricht:
  66. Den Dank, Dame, begehr ich nicht,
  67. Und verläßt sie zur selben Stunde.

Hintergrund

Der Handschuh ist eine Ballade von Friedrich Schiller. Sie entstand im sogenannten Balladenjahr (1797). In diesem verfassten Johann Wolfgang von Goethe und Schiller zahlreiche ihrer bekannten Balladen (Der Zauberlehrling, Der Schatzgräber … / Die Kraniche des Ibykus, Der Ring des Polykrates … ) und lieferten sich hierbei einen freundschaftlichen dichterischen Wettstreit.

Den Stoff zum Handschuh fand Schiller in der Sammlung Essais historiques sur Paris von Germain-François Poullain de Saint-Foix, einem französischen Dichter und Dramatiker des 18. Jahrhundert.
Der Handschuh von Friedrich Schiller wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/schiller/der-handschuh/