Die Nachtfeier der Venus

eine Ballade von Gottfried August Bürger

1. Vorgesang.

  1. Morgen liebe, wer die Liebe
  2. Schon gekant!
  3. Morgen liebe, wer die Liebe
  4. Nie empfand!
  5. Unter hellen Melodieen
  6. Ist der junge Mai erwacht.
  7. Seht, wie seine Schläfe glühen!
  8. Wie ihm Wang’ und Auge lacht!
  9. Ueber kräutervollen Rasen,
  10. Ueber Hainen schwebet er.
  11. Kleine laue Weste blasen
  12. Wolgerüche vor ihm her.
  13. Segenvolle Wolken streuen
  14. Warme Tropfen auf die Flur,
  15. Geben Nahrung und Gedeihen
  16. Jedem Kinde der Natur.
  17. Morgen liebe, wer die Liebe
  18. Schon gekant!
  19. Morgen liebe, wer die Liebe
  20. Nie empfand!
  21. Lieb’ und Gegenliebe paaret
  22. Dieses Gottes Freundlichkeit,
  23. Und sein süssestes versparet
  24. Jedes Thier auf diese Zeit.
  25. Wann das Laub ihr Nest umschattet,
  26. Paaren alle Vögel sich.
  27. Was da lebet, das begattet
  28. Um die Zeit der Blüthe sich.
  29. Morgen liebe, wer die Liebe
  30. Schon gekant!
  31. Morgen liebe, wer die Liebe
  32. Nie empfand!
  33. Schauet! Freudiger und röter
  34. Bricht des Tages Morgen an,
  35. Als im Anbegin, da Aether
  36. Mutter Tellus liebgewan;
  37. Und ihr Schoos von ihrem Gatten
  38. Floren und den Lenz empfing;
  39. Und des ersten Haines Schatten
  40. Um die Neugebornen hing.
  41. Morgen liebe, wer die Liebe
  42. Schon gekant!
  43. Morgen liebe, wer die Liebe
  44. Nie empfand!
  45. Als der erste Frühling blühte,
  46. Wand, erzeugt aus Kronus Blut,
  47. Göttin Venus Afrodite,
  48. Bei gelinder Wogenflut,
  49. Sich almählig aus des grauen
  50. Ozeans verborgnem Schoos,
  51. Angestaunet von den blauen
  52. Wasserungeheuern, los.
  53. Morgen liebe, wer die Liebe
  54. Schon gekant!
  55. Morgen liebe, wer die Liebe
  56. Nie empfand!
  57. 2. Weihgesang.

  58. Morgen ist Dionens Feier.
  59. Stimmet an den Weihgesang!
  60. Töne drein, gewölbte Leier!
  61. Hall’ am Felsen, Wiederklang!
  62. Morgen bringen ihre Tauben
  63. Sie herab in unsern Hain;
  64. Morgen, unter Myrtenlauben,
  65. Ladet sie zu Tänzen ein;
  66. Morgen, vom erhabnen Throne
  67. Winket uns ihr Richterstab,
  68. Und sie spricht, zu Straf’ und Lohne,
  69. Gütevolles Recht herab.
  70. Morgen liebe, wer die Liebe
  71. Schon gekant!
  72. Morgen liebe, wer die Liebe
  73. Nie empfand!
  74. Eilt, den Thron ihr zu erheben!
  75. Thut der Königin Gebot!
  76. Flora sol ihn überweben,
  77. Golden, blau und purpurrot.
  78. Spend’, o Flora, jede Blume,
  79. Die im bunten Enna lacht!
  80. Flora, zu Dionens Ruhme,
  81. Spende deine ganze Pracht!
  82. Morgen liebe, wer die Liebe
  83. Schon gekant!
  84. Morgen liebe, wer die Liebe
  85. Nie empfand!
  86. Unser prangendes Geleite
  87. Wird am Thron ihr huldigen.
  88. Sizen werden ihr zur Seite
  89. Amor und die Grazien.
  90. Alle Nymfen sind geladen.
  91. Nymfen aus Gefild’ und Hain,
  92. Wassermädchen, Oreaden
  93. Werden hier versamlet seyn.
  94. Alle sind herbei gerufen,
  95. Vor Dionens Angesicht,
  96. Mitzusizen, um die Stufen
  97. Ihres Thrones, zu Gericht.
  98. Morgen liebe, wer die Liebe
  99. Schon gekant!
  100. Morgen liebe, wer die Liebe
  101. Nie empfand!
  102. Schon durchwallt die frohen Haine
  103. Cythereens Nymfenschaar.
  104. Amor flattert mit; doch keine
  105. Naht sich ihm und der Gefar. –
  106. Nymfen, die sein Köcher schrekte,
  107. Wist ihr nicht, was ihm geschehn,
  108. Daß er heut die Waffen strekte,
  109. Daß er heut mus wehrlos gehn? –
  110. Unverbrüchliche Geseze
  111. Wollen, daß sein Bogen heut
  112. Keiner Nymfe Brust verleze. –
  113. Aber, Nymfen, scheut, o scheut
  114. Ihn auch nakt! Er überlistet,
  115. Er verlezt euch Mädchen doch:
  116. Denn den Waffenlosen rüstet
  117. Seine ganze Schönheit noch.
  118. Morgen liebe, wer die Liebe
  119. Schon gekant!
  120. Morgen liebe, wer die Liebe
  121. Nie empfand!
  122. Nymfen, rein wie du an Sitte,
  123. Sendet, keusche Delia,
  124. Sendet dir mit sanfter Bitte
  125. Venus Amathusia:
  126. Morgen triefe dies Gesträuche,
  127. Von des Wildes Blute nicht!
  128. Deines Hornes Klang verscheuche
  129. Dieses Hains Gefieder nicht!
  130. Selber wäre sie erschienen,
  131. Selber hätte sie gefleht,
  132. Doch sie scheute deiner Mienen,
  133. Deines Ernstes Majestät.
  134. Weich aus unserm Feierhaine!
  135. Venus Amathusia
  136. Walte morgen hier alleine!
  137. Weich, o keusche Delia!
  138. Morgen liebe, wer die Liebe
  139. Schon gekant!
  140. Morgen liebe, wer die Liebe
  141. Nie empfand!
  142. Zu des schönsten Festes Freude
  143. Lüde sie auch dich mit ein,
  144. Ziemt’ es deinem keuschen Eide,
  145. Zeugin unsrer Lust zu seyn.
  146. Ha! Du soltest Jubel hören!
  147. Hören Sang und Zymbelklang!
  148. Soltest uns in Taumelchören
  149. Schwärmen sehn drei Nächte lang;
  150. Soltest bald in Wirbelreigen
  151. Uns um flinke Nymfen drehn,
  152. Bald, zu Paaren unter Zweigen,
  153. Süsser Ruhe pflegen sehn.
  154. Auch der Held, der fern am Indus,
  155. Vom bezähmten Pardel strit,
  156. Ceres und der Gott vom Pindus
  157. Und Pomona feiern mit.
  158. Morgen liebe, wer die Liebe
  159. Schon gekant!
  160. Morgen liebe, wer die Liebe
  161. Nie empfand!
  162. 3. Lobgesang.

  163. Heller glänzt Aurorens Schleier.
  164. Auf! Begint den Lobgesang!
  165. Töne drein, geweihte Leier!
  166. Hall’ am Felsen, Wiederklang!
  167. Eryzinens Hauch durchdringet,
  168. Bis zur Gränze der Natur,
  169. Wo die lezte Sfäre klinget,
  170. Alle Pulse der Natur.
  171. Sie befruchtet Land und Meere,
  172. Sie das weite Luftrevier.
  173. Wie sie zeuge, wie gebäre,
  174. Weis die Kreatur von ihr.
  175. Morgen liebe, wer die Liebe
  176. Schon gekant!
  177. Morgen liebe, wer die Liebe
  178. Nie empfand!
  179. Wie mit blinkendem Gesteine,
  180. Schmükt sie bräutlich unsre Welt;
  181. Streuet Blüthen auf die Haine,
  182. Blumen über Wies’ und Feld.
  183. Sie enthült die Anemonen,
  184. Schliest den goldnen Krokus auf;
  185. Sezet die azurnen Kronen
  186. Prangenden Cyanen auf.
  187. Den Päonien entfaltet
  188. Sie das purpurne Gewand.
  189. Wie der Mädchen Busen, spaltet
  190. Junge Rosen ihre Hand.
  191. In den Ichor ihrer Wunde
  192. Ward ihr Silberblat getaucht,
  193. Und aus ihrem süssen Munde
  194. Wolgeruch hinein gehaucht.
  195. Morgen liebe, wer die Liebe
  196. Schon gekant!
  197. Morgen liebe, wer die Liebe
  198. Nie empfand!
  199. Liebe segnet die Gefilde,
  200. Und beseliget den Hain;
  201. Liebe flöst dem rauhen Wilde
  202. Wonnigliche Regung ein.
  203. Gatten um die Gatten hüpfen
  204. Rüstig durch den Wiesengrund.
  205. Afroditens Hände knüpfen
  206. Ihren süssen Liebesbund.
  207. Alte Sage bringt zu Ohren:
  208. Daß sie auf der Hirtenflur
  209. Selber einst den Sohn geboren,
  210. Den Beherscher der Natur.
  211. Morgen liebe, wer die Liebe
  212. Schon gekant!
  213. Morgen liebe, wer die Liebe
  214. Nie empfand!
  215. Sie entris Anchisens Laren
  216. Dem entflamten Ilion,
  217. Und aus tausend Meergefaren
  218. Den verfolgten frommen Sohn.
  219. Sie war’s, die die Hand Aeneens
  220. Und Laviniens verband;
  221. Und die keusche Zone Rheens
  222. Löste sie durch Mavors Hand.
  223. Sie vermälte Romuls Diener,
  224. Halb durch List und halb durch Macht,
  225. Mit den Töchtern der Sabiner.
  226. Aus den Küssen erster Nacht
  227. Keimten glänzende Geschlechter,
  228. Mit der Zeiten Wechsellauf,
  229. Patrioten und Verächter
  230. Ihres Todes keimten auf.
  231. Morgen liebe, wer die Liebe
  232. Schon gekant!
  233. Morgen liebe, wer die Liebe
  234. Nie empfand!
  235. Schall’, o Maigesang, erschalle!
  236. Töne, Cypris Hochgesang!
  237. Hört ihr? Singen ihr nicht alle
  238. Fluren, alle Wälder Dank?
  239. Von dem Anger tönt das laute
  240. Lustgebrüll der Heerden ihr.
  241. Aus dem hohen Haidekraute
  242. Zirpen tausend Grillen ihr.
  243. Ihr nun schnattert das Gefieder
  244. Von den Teichen Dank empor;
  245. Und der edlern Vögel Lieder
  246. Sind ein Opfer ihrem Ohr.
  247. Horcht! Es wirbelt Philomele
  248. Tief aus Pappelweiden drein.
  249. Liebe seufzet ihre Kehle;
  250. Keine Klage kan es seyn.
  251. Nicht um Tereus Grausamkeiten
  252. Wimmert Prognens Schwester mehr,
  253. Sol ich nicht ihr Lied begleiten?
  254. Stimmet mich kein Frühling mehr?
  255. Phöbus, säng’ ich nicht dem Maien,
  256. Säng’ ich nicht, o Liebe, dir,
  257. Würde nimmer mir verzeihen.
  258. Stimm’ und Laute nähm’ er mir.
  259. Drum so werde, wann die Schwalbe
  260. Singend ihre Wonung baut,
  261. Werd’, o Sang, gleichwie die Schwalbe
  262. Nach der Winterstille laut!
  263. Morgen liebe, wer die Liebe
  264. Schon gekant!
  265. Morgen liebe, wer die Liebe
  266. Nie empfand!
Die Nachtfeier der Venus von Gottfried August Bürger wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/buerger/die-nachtfeier-der-venus/