Harzreise im Winter

eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe
  1.      Dem Geier gleich,
  2. Der auf schweren Morgenwolken
  3. Mit sanftem Fittich ruhend
  4. Nach Beute schaut,
  5. Schwebe mein Lied!
  6.      Denn ein Gott hat
  7. Jedem seine Bahn
  8. Vorgezeichnet,
  9. Die der Glückliche
  10. Rasch zum freudigen
  11. Ziele rennt:
  12. Wem aber Unglück
  13. Das Herz zusammenzog,
  14. Er sträubt vergebens
  15. Sich gegen die Schranken
  16. Des ehernen Fadens,
  17. Den die doch bittre Schere
  18. Nur einmal lös’t.
  19.      In Dickichts-Schauer
  20. Drängt sich das rauhe Wild,
  21. Und mit den Sperlingen
  22. Haben längst die Reichen
  23. In ihre Sümpfe sich gesenkt.
  24.      Leicht ist’s folgen dem Wagen,
  25. Den Fortuna führt,
  26. Wie der gemächliche Troß
  27. Auf gebesserten Wegen
  28. Hinter des Fürsten Einzug.
  29.      Aber abseits wer ist’s?
  30. Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
  31. Hinter ihm schlagen
  32. Die Sträuche zusammen,
  33. Das Gras steht wieder auf,
  34. Die Öde verschlingt ihn.
  35.      Ach, wer heilet die Schmerzen
  36. Deß, dem Balsam zu Gift ward?
  37. Der sich Menschenhaß
  38. Aus der Fülle der Liebe trank!
  39. Erst verachtet, nun ein Verächter,
  40. Zehrt er heimlich auf
  41. Seinen eignen Wert
  42. In ungnügender Selbstsucht.
  43.      Ist auf deinem Psalter,
  44. Vater der Liebe, ein Ton
  45. Seinem Ohre vernehmlich,
  46. So erquicke sein Herz!
  47. Offne den umwölkten Blick
  48. Über die tausend Quellen
  49. Neben dem Durstenden
  50. In der Wüste!
  51.      Der du der Freuden viel schaffst,
  52. Jedem ein überfließend Maß,
  53. Segne die Brüder der Jagd,
  54. Auf der Fährte des Wilds
  55. Mit jugendlichem Übermut
  56. Fröhlicher Mordsucht,
  57. Späte Rächer des Unbills,
  58. Dem schon Jahre vergeblich
  59. Wehrt mit Knütteln der Bauer.
  60.      Aber den Einsamen hüll’
  61. In deine Goldwolken!
  62. Umgib mit Wintergrün,
  63. Bis die Rose wieder heranreift,
  64. Die feuchten Haare,
  65. O Liebe, deines Dichters!
  66.      Mit der dämmernden Fackel
  67. Leuchtest du ihm
  68. Durch die Furten bei Nacht,
  69. Über grundlose Wege
  70. Auf öden Gefilden;
  71. Mit dem tausendfarbigen Morgen
  72. Lachst du in’s Herz ihm;
  73. Mit dem beizenden Sturm
  74. Trägst du ihn hoch empor;
  75. Winterströme stürzen vom Felsen
  76. In seine Psalmen,
  77. Und Altar des lieblichsten Danks
  78. Wird ihm des gefürchteten Gipfels
  79. Schneebehangener Scheitel,
  80. Den mit Geisterreihen
  81. Kränzten ahnende Völker.
  82.      Du stehst mit unerforschtem Busen
  83. Geheimnisvoll offenbar
  84. Über der erstaunten Welt
  85. Und schaust aus Wolken
  86. Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,
  87. Die du aus den Adern deiner Brüder
  88. Neben dir wässerst.
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Quelle: https://balladen.net/goethe/harzreise-im-winter/