Der Narr des Grafen von Zimmern

eine Ballade von Gottfried Keller
  1. Was rollt so zierlich, klingt so lieb
  2. Treppauf und ab im Schloss?
  3. Das ist des Grafen Zeitvertreib
  4. Und stündlicher Genoss:
  5. Sein Narr, annoch ein halbes Kind
  6. Und rosiges Gesellchen,
  7. So leicht und luftig wie der Wind,
  8. Und trägt den Kopf voll Schellchen.
  9. Noch ohne Arg, wie ohne Bart,
  10. An Possen reich genug,
  11. Ist doch der Fant von guter Art
  12. Und in der Torheit klug;
  13. Und was vergecken und verdrehn
  14. Die zappeligen Hände,
  15. Gerät ihm oft wie aus Versehn
  16. Zuletzt zum guten Ende.
  17. Der Graf mit seinem Hofgesind
  18. Weilt in der Burgkapell‘,
  19. Da ist, wie schon das Amt beginnt,
  20. Kein Ministrant zur Stell‘.
  21. Rasch nimmt der Pfaff den Narrn beim Ohr
  22. Und zieht ihn zum Altare;
  23. Der Knabe sieht sich fleissig vor,
  24. Dass er nach Bräuchen fahre.
  25. Und gut, als wär‘ er’s längst gewohnt,
  26. Bedient er den Kaplan;
  27. Doch wann’s die Müh‘ am besten lohnt,
  28. Bricht oft der Unstern an;
  29. Denn als die heil’ge Hostia
  30. Vom Priester wird erhoben,
  31. O Schreck! so ist kein Glöcklein da,
  32. Den süssen Gott zu loben!
  33. Ein Weilchen bleibt es totenstill,
  34. Erbleichend lauscht der Graf,
  35. Der gleich ein Unheil ahnen will,
  36. Das ihn vom Himmel traf.
  37. Doch schon hat sich der Narr bedacht
  38. Den Handel zu versöhnen;
  39. Die Kappe schüttelt er mit Macht,
  40. Dass alle Glöcklein tönen!
  41. Da strahlt von dem Ciborium
  42. Ein goldnes Leuchten aus;
  43. Es glänzt und duftet um und um
  44. Im kleinen Gotteshaus,
  45. Wie wenn des Himmels Majestät
  46. In frischen Veilchen läge:
  47. Der Herr, der durch die Wandlung geht, –
  48. Er lächelt auf dem Wege!
Der Narr des Grafen von Zimmern von Gottfried Keller wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/keller/der-narr-des-grafen-von-zimmern/