Erscheinung der Schnitterengel

eine Ballade von Friedrich Rückert
  1. Die Mägdelein
  2. Im Mondenschein,
  3. Die Schnitterinnen tanzen,
  4. Die Kleider sind
  5. Im Abendwind
  6. Geworfen auf die Pflanzen;
  7. Sie tanzen wie sie Gott erschaffen,
  8. Es wird sich niemand hier vergaffen;
  9. Und wenn der Mond sich will verschanzen,
  10. Mag er ein Wölkchen raffen.
  11. Allein, wer kommt?
  12. Nun Eile frommt,
  13. Zu schlüpfen in die Röckchen.
  14. Wer ist der Narr?
  15. Ach Gott, der Pfarr‘!
  16. Er geht an seinem Stöckchen.
  17. Der Schreck verwirrt die Tänzerinnen,
  18. Die jeden Rock verkehrt gewinnen;
  19. Da sprach das jüngste klügste Döckchen
  20. Mit unverstörten Sinnen:
  21. Wie toll ihr seid!
  22. Wollt ihr im Kleid
  23. Erscheinen und euch nennen?
  24. Er kennt euch nicht
  25. Am Angesicht,
  26. Im Rock wird er euch kennen.
  27. Wir tanzen wie uns Gott erschaffen,
  28. Er ist zu alt sich zu vergaffen,
  29. Und wenn er fürchtet anzubrennen,
  30. Mag er hinweg sich raffen.
  31. Er sieht den Tanz
  32. Im Mondenglanz,
  33. Die Wesen ohne Mängel;
  34. Sie kamen nur
  35. Von höhrer Flur,
  36. Doch ohne Lilienstengel.
  37. Still geht er heim auf seinen Wegen,
  38. Und danket Gott beim Schlafenlegen,
  39. Daß er gesehn die Schnitterengel,
  40. Bedeutend Erntesegen.
  41. Und als nun gar
  42. Gedroschen war,
  43. Die Mägde stehn betroffen;
  44. Dort war’s so schwül,
  45. Nun ist’s so kühl;
  46. Der Buße Tor ist offen:
  47. Jedwede bringt aus freiem Triebe
  48. Ein Mäßlein, wohl gefegt im Siebe,
  49. Dem Pfarrherrn, daß des Segens Hoffen
  50. Ihm unerfüllt nicht bliebe.
Erscheinung der Schnitterengel von Friedrich Rückert wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/rueckert/erscheinung-der-schnitterengel/