Der Totentanz

eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe
  1. Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nachta
  2. Hinab auf die Gräber in Lage;b
  3. Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;a
  4. Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.b
  5. Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:c
  6. Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,c
  7. In weißen und schleppenden Hemden.x
  8. Das reckt nun, es will sich ergetzen sogleich,a
  9. Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,b
  10. So arm und so jung, und so alt und so reich;a
  11. Doch hindern die Schleppen am Tanze.b
  12. Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,c
  13. Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreutc
  14. Die Hemdlein über den Hügeln.x
  15. Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,a
  16. Gebärden da gibt es vertrackte;b
  17. Dann klippert’s und klappert’s mitunter hinein,a
  18. Als schlüg‘ man die Hölzlein zum Takte.b
  19. Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;c
  20. Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:c
  21. Geh! hole dir einen der Laken.x
  22. Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnella
  23. Nun hinter geheiligte Türen.b
  24. Der Mond, und noch immer er scheinet so hella
  25. Zum Tanz, den sie schauderlich führen.b
  26. Doch endlich verlieret sich dieser und der,c
  27. Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,c
  28. Und, husch, ist es unter dem Rasen.x
  29. Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzta
  30. Und tappet und grapst an den Grüften;b
  31. Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt,a
  32. Er wittert das Tuch in den Lüften.b
  33. Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,c
  34. Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,c
  35. Sie blinkt von metallenen Kreuzen.x
  36. Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht,a
  37. Da gilt auch kein langes Besinnen,b
  38. Den gotischen Zierat ergreift nun der Wichta
  39. Und klettert von Zinne zu Zinnen.b
  40. Nun ist’s um den armen, den Türmer getan!c
  41. Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,c
  42. Langbeinigen Spinnen vergleichbar.x
  43. Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,a
  44. Gern gäb er ihn wieder, den Laken.b
  45. Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –a
  46. Den Zipfel ein eiserner Zacken.b
  47. Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,c
  48. Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,c
  49. Und unten zerschellt das Gerippe.x

Hintergrund

Der Totentanz wurde von Johann Wolfgang von Goethe verfasst. und lässt sich auf das Jahr 1813 datieren, weshalb er der Weimarer Klassik zuzuordnen ist. Goethe war zu dieser Zeit auf der Flucht aus Weimar nach Teplitz, um den Unruhen und dem Chaos der Napoleonischen Kriege zu entkommen.

Es ist belegbar, dass Goethe die Ballade am 22. Mai 1813 per Brief an seinen Sohn August schickte, der diese in den Druck gab. Erstmalig veröffentlicht wurde sie dann 1815. In der Folge wurde die Ballade von zahlreichen Illustratoren, Komponisten und Künstlern aufgegriffen sowie vielfältig verarbeitet.

Der Dichter verarbeitet im Totentanz ein verbreitetes Sagenmotiv: den Raub des Totenhemdes, der es dem Toten unmöglich macht, in Frieden zu ruhen und in die Grabstätte zurückzukehren.

Inhaltsangabe

Der Totentanz ist eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1813. Die Ballade erzählt von einem Türmer, der von seiner Türmerstube den Friedhof bewacht, und Zeuge eines naturmagischen Schauspiels wird: die Toten erheben sich zur Mitternacht aus ihren Gräbern und finden sich zum Tanz zusammen.

Der Türmer beobachtet, wie sich die Toten, unabhängig von ihrem einstigen Rang, zum gemeinsamen Tanz versammeln. Allerdings stören sich die Tanzenden an den Schleppen ihrer Hemden, die beim Bewegen hinderlich sind, weshalb sie sich der Totenhemden entledigen und sie auf dem Friedhof verteilen.

Dem Türmer erscheint das Treiben der Skelette alsbald lächerlich, weshalb er auf die Idee kommt, eines der herumliegenden Totentücher zu entwenden. Kurzerhand schleicht er zu den tanzenden Toten, stibitzt eines der Laken und flüchtet – von den Skeletten unbemerkt – zurück in den Turm der Kirche.

Als die Toten nach dem Tanz in die Gräber steigen, kann eines der Skelette nicht zurück, weil es sein Totentuch nicht auffinden kann und vermutet, dass es der Türmer genommen haben muss. Es macht sich auf, es zu holen.

Da der Tote nicht durch die Kirchentür eintreten kann, beginnt er am Zierrat der Kirche hinaufzusteigen und den Turm von außen zu erklimmen. Der Türmer hat Angst und bereut seine Tat, währenddessen das Skelett immer höher steigt.

In diesem Augenblick schlägt die Kirchuhr 1 Uhr, was das Ende der Geisterstunde bedeutet, und das Skelett stürzt in die Tiefe, wo es auf dem Kirchhof zerschellt.

Analyse

Gedichtart numinose Ballade (Kunstballade)
Strophen 7 Strophen á 7 Verszeilen mit insgesamt 344 Wörtern.
Versmaß
(Metrum)
Kein durchgängiges Versmaß.
Reimschema Kreuzreim (abab), Paarreim (cc), Reimwaise (x)
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Letzte Aktualisierung 20. September 2024, 22:56 Uhr Monatliche Leser 3967 ✭ Beliebtes Werk ➚ Text trendet
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Quelle: https://balladen.net/goethe/der-totentanz/