Schön-Rohtraut

eine Ballade von Eduard Mörike
  1. Wie heißt König Ringangs Töchterlein?
  2. Rohtraut, Schön-Rohtraut.
  3. Was tut sie denn den ganzen Tag,
  4. Da sie wohl nicht spinnen und nähen mag?
  5. Tut fischen und jagen.
  6. O daß ich doch ihr Jäger wär!
  7. Fischen und Jagen freute mich sehr.
  8. – Schweig stille, mein Herze!
  9. Und über eine kleine Weil,
  10. Rohtraut, Schön-Rohtraut,
  11. So dient der Knab auf Ringangs Schloß
  12. In Jägertracht und hat ein Roß,
  13. Mit Rohtraut zu jagen.
  14. O daß ich doch ein Königssohn wär!
  15. Rohtraut, Schön-Rohtraut lieb ich so sehr.
  16. – Schweig stille, mein Herze!
  17. Einstmals sie ruhten am Eichenbaum,
  18. Da lacht Schön-Rohtraut:
  19. »Was siehst mich an so wunniglich?
  20. Wenn du das Herz hast, küsse mich!«
  21. Ach! erschrak der Knabe!
  22. Doch denket er: Mir ists vergunnt,
  23. Und küsset Schön-Rohtraut auf den Mund.
  24. – Schweig stille, mein Herze!
  25. Darauf sie ritten schweigend heim,
  26. Rohtraut, Schön-Rohtraut;
  27. Es jauchzt der Knab in seinem Sinn:
  28. Und würdest du heute Kaiserin,
  29. Mich sollts nicht kränken!
  30. Ihr tausend Blätter im Walde wißt,
  31. Ich hab Schön-Rohtrauts Mund geküßt!
  32. – Schweig stille, mein Herze!
Schön-Rohtraut von Eduard Mörike wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/moerike/schoen-rohtraut/