Ur-Ei der Dichtung

Johann Wolfgang von Goethe bezeichnete die Ballade einmal als das Ur-Ei der Dichtung. Goethe wollte mit diesem Begriff sagen, dass in Balladen die drei Gattungen Lyrik, Dramatik und Epik vereint sind.

Der Begriff geht auf einen Aufsatz zurück, den Goethe in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum veröffentlichte. Goethe setzte sich in der Zeitschrift, die er selbst herausgab, mit verschiedenen Bereichen der Kunst und Kultur auseinander, wobei er das Verständnis von Kunst prägte.

Der entsprechende Aufsatz findet sich im ersten Heft des dritten Bandes. Er erschien 1821 als »Ballade«. Betrachtung und Auslegung. [1]

Was meint Goethe mit Ur-Ei?

Ein Ei ist ein System aus welchem Leben entsteht. Goethe beschreibt die Ballade als eine poetische Form, die alle Gattungen miteinander vereint, welche ansonsten getrennt voneinander sind. Aus der Ballade kann demnach jegliches literarische Leben entstehen und erwachsen.

Hierfür müssen wir wissen, dass eine Ballade meist vorgetragen wurde. Goethe beschreibt die Ballade als etwas Mysteriöses, da erst beim Vortrag ersichtlich wird, wie der Inhalt erzählt wird. Es steht dem Dichter frei, uns dramatisch, lyrisch oder episch ins Geschehen zu führen.

Wir wissen nicht, was aus dem „Balladen-Ei“ schlüpfen wird. Es könnte – zumindest literarisch betrachtet – nahezu alles sein und sich der jeweiligen Spielarten ganz unterschiedlich bedienen. Und eben dieser Umstand ist es, der Goethe am Balladesken so sehr zu faszinieren scheint und weshalb er der Ballade eine so wesentliche Bedeutung zuschreibt.

Wenn wir nun annehmen, dass die Ballade eine Art Ei ist, bei welchem wir noch nicht wissen, was aus ihm schlüpfen wird, ist der Dichter gewissermaßen der Brütende, der, um es mit Goethes Worten zu sagen, „ein Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte“ steigen lassen kann.

Epik, Lyrik und Dramatik

Wir haben nun erfahren, dass Goethe der Ballade eine besondere Rolle zuspricht, da sie die drei Gattungen miteinander vereint. Gemeint ist damit, dass sie lyrische, epische und dramatische Elemente verwendet.

  • Die Ballade ist lyrisch, weil sie in Strophen, Versen und Reimen verfasst ist und häufig rhythmisch einem Versmaß folgt. Außerdem können sich in ihr natürlich allerhand lyrische Stilmittel verbergen.
  • Die Ballade ist episch, weil sie eine spannende Geschichte erzählt. Die Spannung steigt im Laufe der Handlung und wird am Ende aufgelöst.
  • Und dramatisch ist die Ballade, weil es oft einen Helden gibt sowie Dialoge im Text, die die Handlung vorantreiben.

Balladen und Goethe

Dass Goethe der Gattung eines besondere Rolle zusprach, lässt sich deutlich an seinem Lebenswerk erkennen. So brütete der Dichter allerhand Ur-Eier aus und widmete, gemeinsam mit Schiller, ein ganzes Jahr der Balladendichtung, um das Wesentliche aus der Gattung herauszuarbeiten. In diesem Jahr, dem sogenannten Balladenjahr (1797), entstanden zahlreiche der bekanntesten deutschsprachigen Balladen.

Zu nennen sind an dieser Stelle vor allem Der Zauberlehrling, Erlkönig sowie Der Fischer, aber auch die frühen Werke, die eher balladeske Züge aufwiesen, wie etwa Das Veilchen oder Der König in Thule.