Reimwaise

Als Waise oder Reimwaise wird eine reimlose Verszeile im lyrischen Text bezeichnet, der sich ansonsten durch ein regelmäßiges Reimschema auszeichnet. Die Waise kann in einer Strophe überraschend wirken und die (Reim-)Erwartung des Lesenden brechen.

Die Waise wird in der Verslehre mit dem Buchstaben X oder W notiert. Als regelmäßiges Stilmittel begegnet uns die Waise beim Kettenreim und gehört häufig zur Reimfolge in dreizeiligen Strophen dazu, in denen dann zwei Verse reimen und die Waise reimlos bleibt.

Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, die reimlose Verszeile in einer Strophe zu platzieren. Die Waise kann voran- oder nachgestellt sein oder inmitten der Strophe stehen. Diese Platzierungen sind nicht willkürlich und haben jeweils eine unterschiedliche Wirkungen.

Vorangestellte Waise

Ist die reimlose Zeile einer Strophe oder regelmäßigen Reimpaaren vorangestellt, kann dies den Lesefluss weniger künstlich erscheinen lassen. Die Sprache wirkt somit natürlicher.

Ein Beispiel:

  1. Im Garten des Pfarrers von Taubenhain X
  2. Geht’s irre bei Nacht in der Laube. A
  3. Da flüstert und stöhnt’s so ängstiglich; B
  4. Da rasselt, da flattert und sträubst es sich, B
  5. Wie gegen den Falken die Taube. A

Die Verszeile ohne Reimentsprechung, also die Waise, ist der Strophe vorangestellt. Die weiteren Verszeilen reimen im umarmenden Reim und finden jeweils ein Reimpaar (LaubeTaube, ängstiglichsich).

Dadurch ergibt sich in den ersten drei Verszeilen keine Reimfolge, was den Text natürlicher erscheinen lässt, da der Lesende nicht unmittelbar in den Rhyhtmus des Reimschemas rutscht. Diese natürliche Lesart entsteht zumeist, wenn die Waise einer Reimfolge vorangestellt ist.

In Uhlands Der gute Kamerad finden wir ein weiteres Beispiel, in welchem die reimlose Zeile der Strophe vorangestellt wird:

  1. Will mir die Hand noch reichen, X
  2. Derweil ich eben lad’. A
  3. Kann dir die Hand nicht geben, B
  4. Bleib du im ew’gen Leben B
  5. Mein guter Kamerad! A

Waise als Bruch

Wenn die Reimentsprechung inmitten einer Strophe fehlt, kann dies die jeweilige Zeile betonen und in den Vordergrund rücken. Einerseits wird so die Erwartung des Lesenden gebrochen und andererseits der Text aufgelockert, da die Regelmäßigkeit der Reimfolge gebrochen wird.

Ein Beispiel:

  1. Ach! denkt das Veilchen, wär ich nur A
  2. Die schönste Blume der Natur, A
  3. Ach, nur ein kleines Weilchen, X
  4. Bis mich das Liebchen abgepflückt B
  5. Und an dem Busen matt gedrückt! B
  6. Ach nur, ach nur A

Das obige Beispiel habe ich gewählt, weil es so schön homolog ist. Die Reimwaise rückt die dritte Verszeile in den Vordergrund, da es eben kein Reimpaar als Entsprechung gibt und so halten wir beim Lesen kurz inne.

Dieses sprachliche Innehalten wird außerdem durch das Wort Weilchen unterstrichen. Der Lesende hält beim Lesen inne. Nur ein kleines Weilchen – genau wie das Veilchen. Schön.

Ein ähnliches Beispiel, das die Reimstruktur aufbricht:

  1. Frühling lässt sein blaues Band A
  2. Wieder flattern durch die Lüfte; B
  3. Süße, wohl bekannte Düfte B
  4. Streifen ahnungsvoll das Land. A
  5. Veilchen träumen schon, C
  6. wollen balde kommen. D
  7. Horch, ein leiser Harfenton! C
  8. Frühling, ja du bist’s! X
  9. Dich hab ich vernommen! D
Text: Er ist’s

In diesem Beispiel liegt – denken wir die achte Zeile weg – ein regelmäßiger Kreuzreim vor. Die Waise nimmt eine Sonderstellung ein und bricht mit dem Reimschema und somit die Erwartungshaltung des Lesenden.

Interessant ist hierbei – das ist auch im vorherigen Beispiel der Fall – dass die Reimwaise zwar nicht mit den anderen Zeilen reimt, doch aber mit dem Titel Er ist’s, was die Sonderstellung der Zeile unterstreicht.

Nachgestellte Reimwaise

Die Reimwaise kann auch in der letzten Verszeile stehen. Dies führt zu einer Auflockerung und – wie auch der Einschub einer Waise – zum kurzen Innehalten beim Lesen.

Ein schönes Beispiel findet sich in Goethes Totentanz:

  1. Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht A
  2. Hinab auf die Gräber in Lage; B
  3. Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht; A
  4. Der Kirchhof, er liegt wie am Tage. B
  5. Da regt sich ein Grab und ein anderes dann: C
  6. Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann C
  7. In weißen und schleppenden Hemden. X

Zusammenfassung

 
Als Waise oder Reimwaise wird eine reimlose Zeile in einer Strophe bezeichnet, die sich ansonsten einer Reimfolge unterordnet.

Waisen brechen mit dem Rhythmus des Gedichts und können somit einen Text und den Singsang, der bei gleichbleibenden Reimfolgen mitunter entsteht, auflockern. Die Sprache kann dadurch natürlicher wirken.

Eine Reimwaise ist bei Texten, die sich ansonsten einem Reimschema fügen, nicht zufällig gesetzt. Es liegt also nicht daran, dass dem Verfasser eines Textes kein Reim eingefallen ist, sondern dient in der Regel als Hervorhebung einer Verszeile.

Spannend kann es sein, zu überprüfen, ob die Reimwaise mit einem anderen Wort aus dem Text reimt oder sogar mit dem Titel.